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Bolivien – Stadtleben

Mai 22, 2017

Bolivien hat einen unverwechselbaren Sound. Eher früher als später wird dem Besucher bolivianischer Städte schräg klingende Rumstata-Musik um die Ohren gehauen. Am Anfang läuft man dem Lärm noch hinterher – es muss ja irgendwas Besonderes damit auf sich haben. Später stellt man fest: Die Bolivianer kramen zu jeder sich bietenden Gelegenheit (alle Arten von Jubiläen, Demos, Schulabschluss etc.) ihre Kostüme, Uniformen und Instrumente heraus und formieren sich zu einer Mischung aus Militär- und Karnevalskapelle beachtlicher Größe. Wo nehmen sie die Unmengen an Musikern her? Ein Blick in die Schulhöfe zeigt: Die Blockflöte des deutschen Grundschülers ist das Glockenspiel des bolivianischen.

Ein Wunder, dass ich in Tupiza Ennio Morricone höre. Im Geiste. Tupiza ist ein staubiges Städtchen (wenn hier der Wind bläst, was er tut, ist es wie durch dichten Nebel zu fahren: null Sicht), das einem amerikanischen Western entsprungen sein könnte. Dazu passend hängen überall Saloon-artige Schilder herum und ich steige in einer Unterkunft namens Butch Cassidy ab.

Das macht natürlich Sinn, denn die nach Südamerika geflohenen Outlaws Butch Cassidy und The Sundance Kid sollen in der Nähe von Tupiza von bolivianischen Soldaten zur Strecke gebracht worden sein. Das heißt, falls sie nicht doch überlebt haben. So sicher ist das alles nämlich nicht.

Etwas weiter, in Potosí gab es einmal riesige Silbervorkommen, die die Stadt einst zur reichsten Amerikas machten und Spanien mit Silbermünzen versorgten. Im Münzprägemuseum vor Ort hat der mit Begeisterung unverständliches Englisch sprechende und mit ebensolcher von der Bedeutung Potosís schwärmende Guide mehr Unterhaltungswert als das Museum selbst. Er erklärt uns, das globale Geld- und Wirtschaftswesen sei überhaupt erst in Potosí entstanden. Aha.

Tatsächlich aber könnten die horizontalen und vertikalen Striche, die sich in vielen Währungssymbolen ($, €, £, ¥ usw.) bis heute finden, ein Überbleibsel aus den Prägestempeln der seinerzeit aus Potosí stammenden Münzen sein.

Wo der Guide definitiv die Wahrheit sagt: Im Dienste der spanischen Krone sind in den Minen und bei der Münzherstellung abertausende indigene Zwangsarbeiter zu Grunde gegangen. Die spanischen Konquistadoren versuchten es zwischendurch mit afrikanischen Sklaven, die aufgrund der sauerstoffarmen Höhenluft schon gestorben sind, bevor sie überhaupt in den Minen eingesetzt wurden.

Unabhängig davon gefällt mir die Stadt, in der einem aufgrund der Höhe und dem ewigen Auf und Ab schon mal die Luft ausgehen kann.

Auch in der eigentlichen Hauptstadt Sucre, in der die Unabhängigkeit proklamiert wurde, deren Bewohner aber froh sind, dass die Verantwortung (gemeint sind Kosten, Demos etc.) des Regierungssitzes in La Paz liegt, halte ich mich gerne auf.

Ich starte einen neuerlichen Museumsversuch. Dieses Mal um die Geschichte Boliviens zu verstehen. Alles in Spanisch, ich verstehe also nur rudimentär – es geht vor allem um die Befreiung von den Spaniern. Dabei hält die Geschichte auch danach so einiges bereit. In Bolivien kehrt lange keine Ruhe ein, Militärdiktatur folgt auf Militärdiktatur, dazwischen muss das einst große Land bedeutende Gebiete an diverse Nachbarländer abgeben. Mit ihrem einst demokratisch gewählten Dauerpräsidenten Evo Morales haben die Bolivianer zwar ihren ersten indigenen Präsidenten – doch so langsam zeigen sich autoritäre Tendenzen. Und die krasse soziale Ungleichheit zwischen der nicht-indigenen und der – das ist in Südamerika einmalig – mehrheitlich indigenen Bevölkerung ist nach wie vor frappierend. Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas, wovon in erster Linie die Land- und damit zugleich die indigene Bevölkerung betroffen ist (kein Strom, kein Wasser).

Die letzte Stadt-ion ist La Paz. Soll ja so gefährlich sein dort. Liest man. Tatsächlich gibt es Orte, die nicht gerade vertrauenserweckend klingen. Der sogenannte Hexenmarkt zum Beispiel. Dort werden außer allerlei Kräutern und Pulvern auch Lamaföten verkauft. Obwohl die katholische Kirche mal wieder ganze Arbeit geleistet hat (95% Katholiken), glauben die Bolivianer, dass Pachamama (Mutter Erde) mittels Opfern besänftigt werden muss. Wenn ein Haus gebaut wird beispielsweise. Dann werden besagte Lamaföten unter’s Fundament gelegt. In La Paz stehen auch ein paar Hochhäuser rum. Darunter sollen mit Alkohol abgefüllte Bettler lebend begraben sein. Je größer das Projekt, desto größer das Opfer.

Ich ziehe mich in sicherere Gefilde zurück. Ins beste Verkehrsmittel aller Zeiten. Was ich nur vom Skifahren kenne, die 8-er-Gondel, wird hier gerade zu einem öffentlichen Verkehrsnetz ausgebaut. Man fährt über die Stadt hinweg und kann den Leuten beim Leben auf ihren Flachdachterrassen (meist wird Wäsche gewaschen) zusehen. Es geht von unten (das ist La Paz auf knapp 4000 Metern) entlang der in die Felswände gebauten Häuser hoch nach El Alto. Das ist die unmittelbar an La Paz angrenzende Stadt auf einer Ebene in über 4000 Metern. Aufgrund der dünnen Luft lebt hier oben der ärmere Bevölkerungsteil.

Nachdem ich einen halben Tag mit dem Teleférico durch die Gegend gefahren bin, kann ich doch ein bisschen Thrill vertragen. Wie gut, dass sich unweit von La Paz der Camino de la Muerte („Straße des Todes“ oder auch „Die gefährlichste Straße der Welt“) befindet – bis vor wenigen Jahren die einzige Verbindung zwischen Hochland und Dschungel. Entsprechend stark war die Straße befahren, und so sind pro Jahr um die 200-300 Menschen umgekommen (für mehr Details empfehle ich das TopGear-Bolivia-Special).

Heute gibt es eine Umgehungsstraße, an der sie vierzig Jahre gebaut haben. Anstelle von LKWs und Bussen stürzen sich auf dem alten, schmalen, sich an steilen Abhängen entlang windenden, unbefestigten, teilweise morastigen und nebligen Weg von 65 km Länge todesmutige Mountainbiker von knapp 5000 auf 1000 Meter hinunter. Prompt schmeißt es ein paar Überholer (natürlich nur Männer) direkt vor mir hin.

Aber der richtige Schocker folgt noch: An einer Klippe ist eine Menschentraube versammelt. Einige zerren an einem Seil – an dessen Ende hängt einer aus unserer Gruppe, der einen neunzig Grad steilen Abhang runtergefallen ist. Ich schwöre: Von oben kann ich den Boden nicht sehen. Ebenso wenig einen Busch oder einen Stein, an dem man sich hätte festhalten können. Aber der Typ hat wie durch ein Wunder überlebt!

Ich bin noch immer etwas zittrig.